Das Hinspiel …
… läutete in der Schlussminute den Anfang der Torwartmisere beim 1. FC Nürnberg ein. Nach einem Crash mit Boris Tashchy brach sich Christian Mathenia die Kniescheibe, es folgten Einsätze von vier verschiedenen anderen Torhütern ehe der Stammkeeper seit Januar wieder im Kasten steht. Mathenia rettete in der Aktion, in der die Kniescheibe brach, das Remis. Die in der letzten Minute der Nachspielzeit abgewehrte Chance war die höchstwertige Gelegenheit im ganzen Spiel.
An sich war das 1:1 Anfang Oktober in Nürnberg ein leicht unglückliches Ergebnis für den FCN. So fiel der Führungstreffer der Hamburger auf sehr unglückliche Weise, als der Linienrichter ein Abseits anzeigte, der FCN das Spielen einstellte, St. Pauli traf und sich nach Überprüfung herausstellte, dass kein Abseits vorlag. Der Club kam öfter in den Strafraum der Braun-Weißen, schoss doppelt so oft aufs Tor und vollendete doppelt so viele Pässe in der gefährlichen Zone um das gegnerische Tor. Allerdings waren die Chancen des FCN weitaus weniger gefährlich als die der Gäste. Trotz wesentlich geringerer Schusszahl gingen die Teams am Ende mit fast identischen expected Goals aus der Partie.
Anders seitdem ist …
… die Tabellenposition der beiden Kontrahenten. Nach dem Spiel im Oktober standen St. Pauli und der Club punktgleich auf Platz 5 und 6 der Tabelle. Vor dem Rückspiel trennt sie ein Punkt und sie sind auf Rang 11 bzw. 14. Für St. Pauli folgten auf das Unentschieden in Nürnberg acht weitere sieglose Spiele, aus denen sie gerade mal zwei Punkte holten. Der Club holte nach dem Spiel gegen die Kiezkicker sogar nur drei Punkte aus neun Spielen, ehe der nächste Sieg folgte. Im Gegensatz zum Club trennte sich der FC St. Pauli nicht von seinem Trainer. Wirklich überraschend ist es allerdings nicht, dass Jos Luhukay noch an der Linie steht. Die Aversion von St. Paulis Sportvorstand Andreas Bornemann Trainerwechsel zu vollziehen ist aus seinen Nürnberger Zeiten wohlbekannt.
Luhukay hat St. Pauli in den letzten Monaten in Sachen Grundformation noch einmal flexibler gemacht. Neben 4-1-4-1 und 4-2-3-1 spielen die Hansestädter nun auch ab und zu mit Dreierkette, sind insgesamt etwas flexibler geworden. Die letzten vier Spiele hat St. Pauli dann auch nicht verloren. Möglicherweise hat der Abgang von Mats Møller Dæhli den Hamburgern sogar gutgetan. Der Norweger wechselte im Januar zum belgischen Meister KRC Genk, seitdem ist das Spiel weniger auf eine Person zugeschnitten, die Last des Gestaltens auf mehrere Schultern verteilt.
Statistisch auffällig beim Gegner…
… ist, dass er selten schießt, aber gefährliche Abschlüsse hat. So gesehen war das Hinspiel kein Ausreißer, sondern die Norm. St. Pauli hat die drittkleinste Anzahl an abgegebenen Schüssen, aber den zweihöchsten Wert in den expected Goals pro Schuss. Das liegt sicher daran, dass nur drei Mannschaften (Wehen, Hannover, Stuttgart) anteilig noch weniger von außerhalb des Strafraums schießen. St. Pauli versucht erst in den Strafraum zu kommen, ehe der Abschluss gesucht wird. Das erkennt man auch an den statistischen Werten wie Ballberührungen im Strafraum und angekommene Pässe in Tornähe, wo St. Pauli weitaus bessere Werte hat als es der Tabellenstand vermuten lässt.
Warum also steht St. Pauli nur fünf Punkte vor der Abstiegsrelegation? Zum einen spricht die geringe Schusszahl trotz hoher Zahl der Ballberührungen im gegnerischen Sechzehner eben auch dafür, dass man nicht oft genug zum Abschluss kommt. Tatsächliche Tore und expected Goals liegen auch ungefähr auf gleichem Level, man ist also weder besonders mit Glück noch Pech vor dem Tor gesegnet, sondern schließt einfach zu selten ab.
Zum anderen ist das Verhältnis zwischen Ballbesitz und Ballverlusten relativ hoch. So hat der FC St. Pauli den Ball nur knapp 47 Prozent des Spiels, ist damit auf Platz 11 im Ranking in der Zweiten Liga, bei den Ballverlusten aber auf Platz 6. Die fünf Mannschaften, die vor St. Pauli liegen, haben aber deutlich mehr Ballbesitz, also auch mehr Gelegenheiten, den Ball zu verlieren. Besonders auffällig, niemand verliert anteilig häufiger den Ball im direkten Duell wie die Kiezkicker.
Der Hipster-Spieler …
… ist trotz Bart und Geburtsort Berlin nicht Marvin Knoll. Auch wenn der Standardspezialist für das Spiel der Hanseaten unbestritten wichtig ist, und die Torjäger Diamantakos, Gyökeres und Veerman mehr Aufmerksamkeit bekommen da sie zu dritt zwei Drittel aller Tor erzielt haben, ist der versteckte Schlüsselspieler ein anderer: Ryo Miyaichi. Der 27-Jährige kam 2011 aus Japan zu Arsenal, spielte aber ganze 17 Minuten in der Premier League für die Gunners, stattdessen wurde Rechtsaußen immer wieder verliehen: Zu Wigan, Bolton, Feyenoord und Twente. 2015 ging es dann fest zu St. Pauli und zunächst schien es so, als wäre die Karriere des 2012 zweimal für die Nationalelf eingesetzten Japaners zu Ende. Gleich zweimal riss er sich das Kreuzband, Im Laufe der letzten Saison kam er nach anfänglichem Trainingsrückstand zurück, glänzte da noch eher als Vollstrecker. Im Laufe dieser Saison hat sich Miyaichi nun zum Stammspieler entwickelt. Dabei hat sich der Flügelspieler vom Vollstrecker zum Wegbereiter entwickelt: Keiner hat mehr Torvorlagen, keiner spielt so viele Pässe, die zu Abschlüssen führen, keiner schafft aussichtsreichere Chancen für die Mitspieler wie er. Darüber hinaus ist Miyaichi der beste Zweikämpfer gegen den Ball unter den Offensivspielern. Er holt sich also oft genug den Ball, um ihn dann gleich zu verteilen. Ihn in den Griff zu bekommen dürfte eine der Hauptaufgaben für den FCN sein, von den 17 Spielen mit Torbeteiligung von Miyaichi hat St. Pauli nur zwei verloren.
Der Artikel erschien in leicht veränderter Fassung am 13. März 2020 unter dem Titel „Einfach zu wenige Schüsse“ im Nürnberger Stadtanzeiger, dem gemeinsamen Lokalteil von Nürnberger Nachrichten und Nürnberger Zeitung, auf Seite 36.