Der statistische Wert der „expected Goals“ erfreut sich im Fußball immer größerer Beliebtheit, für manche Vereine ist er Grundlage des Erfolgs.
Zuschauer der ehrwürdigen BBC-Sendung „Match of the Day“, dem englischen Äquivalent der Sportschau, staunten im Sommer 2017, also plötzlich neben den gewohnten Statistiken wie Ballbesitz, Passquote und Fouls auch eine den meisten völlig unbekannte Metrik namens „expected Goals“ auftauchte. Auch regelmäßigen Lesern dieser Kolumne ist dieser Begriff öfter begegnet. Doch was steckt eigentlich hinter diesem Wert, der in der Analyse von Fußballspielen immer mehr an Bedeutung gewinnt?
Expected Goals, kurz xG, sind ein Wert, der das intuitive „Des hädd a zwaa ans firn glubb ausgeh kenna“ versucht zu quantifizieren. Zur Ermittlung wird jedem Schuss auf Grund von Ort und Art des Schusses sowie der Anzahl der Gegner, die zwischen dem Schützen und dem Tor stehen, ein Erfolgswert zwischen 0.01 und 1.00 zugewiesen. Dabei entspricht 0.01 einer Chance von 1%, dass der Ball ins Tor geht, ein Wert von 1.00 ist ein Ball, der auf der Torlinie liegt, ohne dass der Spieler bedrängt wird. Ein Elfmeter wird dementsprechend mit 0.76 verbucht, da im Profibereich ziemlich genau 76% aller Elfmeter ins Tor gehen. Alle anderen xG-Werte unterscheiden sich je nach Anbieter, da manche Datenermittler die Werte von so genannten „Spottern“ einschätzen lassen, während andere eine Datenbank mit weltweit erfassten Schüssen bemühen.
Um die xG für ein beliebiges Spiel zu erhalten, addiert man die Werte aller Schüsse beider Mannschaften. Ein Beispiel: Am ersten Spieltag in Dresden hatte der FCN einen xG-Wert von 0,46, Dynamo Dresden von 0,84. Das entspricht in etwa dem Eindruck, den man auch augenscheinlich hatte. In einem weitgehend ausgeglichenen, chancenarmen Spiel hatte Dresden die etwas besseren Gelegenheiten. Im Rückspiel vor der Winterpause kam der FCN auf 1,45 xG, Dresden auf 0,38xG. Auch hier wird der Eindruck bestätigt, der Club hatte bessere Chancen, Dresden kaum gute. Theoretisch lassen sich aus den xG-Werten auch Siegwahrscheinlichkeiten errechnen, z.B. 19% für den Club in Dresden, 67%% im Rückspiel.
Aus diesen Werten wiederum ergeben sich so genannte „expected Points“ (xP), also die Punktzahl, die eine Mannschaft mit dieser Chancenwertigkeit im Schnitt erhält. Um die xP zu berechnen, wird die Siegeswahrscheinlichkeit mal drei genommen und die Wahrscheinlichkeit eines Unentschiedens addiert. Für das Spiel in Dresden ergeben sich so 0,95 xP, für das Rückspiel in Nürnberg 2,25 xP. Der Wert für ein einzelnes Spiel lässt zunächst einmal also Rückschlüsse darüber zu, ob ein Erfolg glücklich war oder verdient.
Betrachtet man dann die expected Goals und Points über einen längeren Zeitraum, gleichen sich die Werte oft aus. So ist bei einem Verein, der über eine längere Zeit mehr Tore als seine expected Goals schießt, ist zu erwarten, dass dies nicht konstant zu halten ist und die Ergebnisse schwächer werden. Umgekehrt gilt bei einem hohen Saldo zwischen geschossenen Toren und xG: Wahrscheinlich hat die Mannschaft Pech. Ein Beispiel hierfür ist Borussia Dortmund in Jürgen Klopps letzter Saison. 2014/15 lag der BVB in der Hinrunde weit hinter den xG lagen, im Laufe der Rückrunde spielte Dortmund dann auf ähnlichem Level, bekam aber die Ergebnisse, die es nach expected Goals verdiente und schloss so
Es ist aber keineswegs ein Automatismus, dass eine Mannschaft, die über eine längere Strecke Pech hat, im Laufe der Saison plötzlich Glück hat. Vielmehr haben Ergebnisse natürlich auch psychologische Auswirkungen, so dass sich Teams bisweilen auch von ihrer Spielqualität den Ergebnissen anpassen. Es gibt genug Beispiele, wo Mannschaften dann auch deutlich unter ihren expected Points einliefen. So kam der FCN letzte Saison auf 33,6 expected Points, was vor allem der hohen Anzahl an verschossenen Elfmetern zuzuschreiben ist, aber nur auf 19 Punkte. Die 33,6 xP waren allerdings auch in einer expected Points-Tabelle nur für Platz 17 gut. So ist auch die Tatsache, dass der Club derzeit nach expected Points sieben Punkte mehr hat als in der Tabelle eben keine Garantie dafür, dass die Saison am Ende ein gutes Ende nimmt.
Wer das alles nun als statistische Spielerei oder Schwachsinn abtut, dem sei die Geschichte von Matthew Benham ans Herz gelegt. Der Brite hat mit Hilfe der expected Goals eine eigene Wettfirma auf die Beine gestellt und damit so viel Geld verdient, dass er sich beim Brentford FC in London und dem FC Midtjylland in Herning in Dänemark einkaufen konnte. Beide Clubs führt Benham ohne großes finanzielles Investment und stattdessen mit Hilfe statistischer Modelle: So scouten die Teams basierend auf den expected Goals ihre Spieler. Es funktioniert: Bevor Benham Brentford übernommen hatte, war der Verein drittklassig, Midtjyllands beste Platzierung in der Liga war ein dritter Platz gewesen. Zurzeit ist Brentford Dritter in der zweiten englischen Liga. Midtjylland ist amtierender Pokalsieger und Tabellenführer in Dänemark, zweifacher Meister und nahm in jedem Jahr am Europapokal teil.
Der Artikel erschien in leicht veränderter Fassung am 17. Januar 2020 unter dem Titel „Der Versuch, das Glück zu messen“ im Nürnberger Stadtanzeiger, dem gemeinsamen Lokalteil von Nürnberger Nachrichten und Nürnberger Zeitung, auf Seite 36.