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Taktiktafel: Regensburg (H)

Der Trainer…

…  wechselte als 24-Jähriger aus Sarajewo in die Oberpfalz. Dreizehn Jahre später ist Mersad Selimbegovic immer noch in Regensburg und immer noch Angestellter des SSV Jahn Regensburg. Bis 2012 war er als Innenverteidiger in Dritt- und Viertklassigkeit aktiv, danach Co-Trainer der zweiten Mannschaft, Cheftrainer der U19, Nachwuchskoordinator und Co-Trainer der ersten Mannschaft. Als sein Chef, Achim Beierlorzer, Regensburg im Sommer Richtung Köln verließ, rechnete man damit, dass Selimbegovic einen neuen Vorgesetzten bekäme: Eine Rückkehr von Markus Weinzierl stand stand ebenso im Raum wie mit Michael Köllner und Boris Schommers zwei ehemalige Clubtrainer. Am Ende entschied sich Jahn-Geschäftsführer Christian Keller dafür Selimbegovic zu befördern.

„Wir wollten sehr vieles sehr ähnlich belassen wie in der Vergangenheit, das gilt explizit auch für die Trainingssteuerung“, begründete Keller den Schritt einen Cheftrainernovizen im Profibereich zu benennen. Denn Selimbegovic war enger Vertrauter von Beierlorzer, der Regensburg als Aufsteiger auf Platz fünf und im vergangenen Jahr dann auf Platz acht führte. In beiden Spielzeiten saß der Bosnier neben dem Mittelfranken und „er steht als Fußballlehrer für die Jahn-Spielidee“, so Keller in der Antrittspressekonferenz.

Die Grundordnung…

…  ist dann Teil dieser „Jahn-Spielidee“ und basiert auf einem flachen 4-4-2 als Grundformation. Jene Formation, die Beierlorzer nun auch in Köln wieder verwendet, ist seit dem Aufstieg in die Zweite Liga Standard beim Jahn und wird nur in seltenen Ausnahmefällen verändert. Das bedeutet letztlich auch, dass man sich gut auf die Formation einstellen kann.

Das flache 4-4-2 setzt die beiden zentralen Mittefeldspieler (in der Regel Beschukow und Geipl) unter besonderen Druck, da sie sowohl das Spiel ankurbeln als auch in der Defensive ordnen müssen. Sollte der Club erneut auf ein 4-1-4-1 setzen, hätte er im Zentrum einen Mann mehr, was ihm einen Vorteil verschaffen könnte. Oft wird diese numerische Unterlegenheit dadurch ausgeglichen, dass sich einer der beiden Stürmer (meist der Sturmpartner von Grüttner) ins Mittelfeld fallen lässt.

Beim Jahn wird – unter Selimbegovic sogar noch etwas mehr als unter Beierlorzer – aber auch gern mit dem langen Ball gearbeitet. Fast jeder fünfte Ball, den die Oberpfälzer spielen, ist ein langer. Das Ziel ist es, direkt und schnell in die Spitze zu kommen. Das führt auch dazu, dass Regensburg in den Kategorien Passanzahl pro Ballbesitzphase (2,46) und Pässe pro Minute Ballbesitz (10,5) Ligaschlusslicht ist. Ein durchschnittlicher Ballbesitz von 41,9% ist daher quasi fast logisch.

Gepaart werden diese Faktoren mit einer recht hohen Pressingintensität (drittniedrigster PPDA-Wert der Liga), so dass die Idee tatsächlich bekannt vorkommen könnte. Schnelles und tiefes Passspiel, erfolgreiches Umschaltspiel nach intensivem Pressing. Das alles klingt nach dem, was Damir Canadi in seiner Idealvorstellung auch vorschwebt.

Die letzten Spiele…

…  hat der Jahn nach einer Durststrecke mit zwei Niederlagen gegen Stuttgart und in Dresden erfolgreich gestalten können. Gegen den HSV gab’s zu Hause ein 2:2, es folgten zwei Siege in Kiel und gegen Sandhausen. Auffällig war zum einen, dass Regensburg eine enorm gute Chancenverwertung hat. Gegen Sandhausen machte der Jahn aus zwei Schüssen aufs Tor ein Tor, in Kiel aus zwei Schüssen aufs Tor sogar zwei Tore, gleiches galt gegen den HSV. Im Gegensatz dazu muten die Quoten eins aus drei (in Dresden) und zwei aus fünf (gegen Stuttgart) aus den Spielen zuvor fast verschwenderisch an.

Auf die Saison gerechnet haben die Oberpfälzer fünf Tore mehr erzielt als auf Grund ihrer Chancenqualität zu erwarten war. Das liegt auch daran, dass sie seltener als jede andere Mannschaft aufs Tor schießen: 101-mal in 10 Spielen. Dass aus diesen 101 Schüssen 18 Tore entstanden – der FCN braucht für die gleiche Anzahl Tore 148 Schüsse – ist ein weiteres Indiz dafür, dass der Jahn enorm abschlussstark ist. Auch der Wert von 0.13 xG pro Schuss spricht dafür.

Der Schlüsselspieler …

… ist für diese gute Chancenverwertung mitverantwortlich. Marco Grüttner ist Kapitän, Torjäger und Führungsfigur. Seit seinem Wechsel vom VfB Stuttgart II an die Donau hat Grüttner in jeder Spielzeit – egal ob Zweite oder Dritte Liga – stets eine zweistellige Anzahl an Tore für den Jahn erzielt. In dieser Saison ist er mit vier Toren nach zehn Spielen erneut auf Kurs, obwohl er letzte Woche 34 Jahre alt geworden ist.

Doch nicht nur als Vollstrecker ist Grüttner wichtig. Naturgemäß ist er als Stürmer in einem System, das auf lange Bälle ausgerichtet ist, der Spieler mit den meisten Luftduellen. Er ist aber nicht nur Zweikämpfer, sondern auch Vorbereiter. Grüttner ist der Stammspieler mit den meisten Pässen, die zu Abschlüssen führen, den zweitmeisten Steckpässen und den meisten Torvorlagen. In der letzten Saison kam Grüttner insgesamt auf zehn Vorlagen, in dieser Saison sind es auch bereits wieder deren drei.

Der Artikel erschien in leicht veränderter Fassung am 25. Oktober 2019 unter dem Titel „Lang, weit und erfolgreich“ im Nürnberger Stadtanzeiger, dem gemeinsamen Lokalteil von Nürnberger Nachrichten und Nürnberger Zeitung, auf Seite 40.

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Taktiktafel: Aue (A)

Der Trainer…

… tauchte bereits an dieser Stelle auf, schließlich hat Darmstadt 98 noch immer mit den Nachwirkungen von der Art, wie Dirk Schuster Fußball spielen lässt, zu kämpfen. Der 51-Jährige steht im deutschen Fußball wie kein Zweiter für das, was im Englischen „Route 1 Football“ im Deutschen aber „Kick and Rush“ heißt. Unter Schuster spielte Darmstadt in der Bundesliga nämlich phasenweise über ein Drittel seiner Bälle lang und vertraute auf die Schnelligkeit und Kopfballstärke seiner Angreifer und verzichtete fast vollständig auf Ballbesitz. Am Ende der Saison 2015/16 lag der Ballbesitz der Lilien bei lediglich 33,7%.

Dennoch hielt man sensationell die Klasse. Schuster verließ daraufhin Darmstadt in Richtung Augsburg. Am Ende der Saison waren weder Verein noch Trainer erstklassig. Die Lilien stiegen ab, Schuster wurde noch vor der Winterpause in Augsburg entlassen. Es überraschte daher nicht, dass die beiden im Dezember 2017 – Darmstadt stand auf dem Abstiegsrelegationsplatz in der Zweiten Liga – erneut zueinanderfanden. Schuster ließ wieder „Schuster-Fußball“ spielen, Darmstadt verlor elf Spiele in Folge nicht, man hielt gemeinsam die Klasse.

Doch im Februar dieses Jahres endete nach nur einem Sieg aus zehn Spielen die zweite Amtszeit des ehemaligen deutschen Nationalspielers am Böllenfalltor. Dieser war daher im August frei, um in Aue den Posten von Daniel Meyer zu übernehmen, der unter bis heute nicht geklärten Umständen von Aues Präsident Helge Leonhardt beurlaubt worden war.  

Die Grundordnung…

… ist unter Dirk Schuster in der Regel ein einfach zu spielendes 4-4-1-1. Die Formation mutet in vielerlei Hinsicht wie ein flaches 4-4-2 an, unterscheidet sich aber vor allem darin, dass die Stürmer nicht nebeneinander, sondern hintereinander agieren. Klassischerweise spricht man von einem „Stoßstürmer“ (in Aue: Pascal Testroet) und einer „hängenden Spitze“ (Nazarov oder Hochscheidt). Dabei ist die hängende Spitze der Verbindungsspieler zwischen den beiden dichten Ketten in Abwehr und Mittelfeld und unterstützt die Mittefeldreihe im Verteidigungsspiel, während der Stoßstürmer vor allem zum Verwerten der Zuspiele zuständig ist. In Schusters Spielanlage mit langen Bällen dient der Stoßstürmer außerdem dazu Bälle auf die nachrückende hängende Spitze oder die aufrückenden Außenspieler zu verteilen.

Interessanterweise agierte Aue im letzten Spiel vor der Länderspielpause in Sandhausen mit dem gleichen offensiven Setup, veränderte aber dahinter auf eine Dreier- und eine Fünferkette. Wobei je nach Spielsituation entweder die Abwehr oder das Mittelfeld aus fünf Spielern bestand. Ob das nur eine einmalige Aktion war oder nun tatsächlich zu Schusters Repertoire gehört, lässt sich noch nicht einschätzen, für den Umgang mit dem Angriffsmuster der Sachsen ändert es aber nicht viel. Es gilt auch weiterhin durch konsequentes Gewinnen der Duelle gegen Testroet und Verhindern der Abspiele von Nazarov zu verhindern, dass Aue zum Abschluss kommt.

Die letzten Spiele…

…  performte Erzgebirge weit über dem zu erwartenden statistischen Wert. Rechnet man aus den an dieser Stelle bereits mehrfach erwähnten expected Goals die Siegwahrscheinlichkeiten für die einzelnen Spiele, erhält man expected Points. Nach diesen auf Grund der Spielverläufe zu erwartenden Punkten müsste Aue entweder bei neun oder zehn Punkten stehen, tatsächlich haben sie aber fünf mehr eingefahren. Die höchste Diskrepanz in der Liga, die dazu führt, dass Aue gemßäß den expected Points sogar Vorletzter der Tabelle ist.

Oft ist ein hoher Unterschied zwischen expected points und tatsächlicher Punktzahl ein Indikator dafür, dass eine Mannschaft überperformed und sich die Ergebnisse auf lange Sicht wieder einpendeln. So war es zum Beispiel in der vergangenen Saison in der Premier League, als Manchester United nach der Amtsübernahme von Ole Gunnar Solskjaer eine Zeit lang alles gewann und bis auf Platz Vier vorstieß, obwohl die expected goals ein anderes Bild zeichneten. Tatsächlich pendelten sich die Resultate im Laufe der Rückrunde ein und Manchester United landete außerhalb der Champions League Plätze.

Bei Aue kommen die Zweifel an der Nachhaltigkeit des Erfolgs auch daher, dass die Sachsen in vielen anderen statistischen Kategorien schwach abschneiden. Sie verzeichnen die wenigsten Balleroberungen, die wenigsten Pässe ins letzte Drittel, die wenigsten Ballberührungen im gegnerischen Strafraum, die wenigsten Offensivzweikämpfe und haben den drittgeringsten Ballbesitz. Das alles ist nicht untypisch für Dirk Schuster Fußball, das deutliche Übertreffen der expected points allerdings schon.

Der Schlüsselspieler …

… ergibt sich aus der Beschreibung des Fußballs, den Dirk Schuster spielen lässt, fast von selbst. Pascal Testroet ist der Stoßstürmer in Aues 4-4-1-1. Er ist derjenige, der die Bälle festmacht und verteilt und sowohl andere in Szene setzt, als auch selbst zum Abschluss kommt. Der 29-Jährige kommt daher auch auf den höchsten Wert an Pässen, die zu einem Torabschluss führen, in der gesamten Zweiten Liga.

Das ist auf Grund der oben genannten Zahlen für das gesamte Team umso erstaunlicher. Testroet, im Sommer 2018 auch Dresden gekommen, ist aber nicht nur Vorbereiter, sondern auch Vollstrecker. Drei Saisontore stehen für den Angreifer bereits zu Buche, alle drei Tore schoss Testroet in den letzten beiden Partien vor der Länderspielpause. Das Ausschalten des in Bocholt geborenen und bei Schalke und Werder Bremen ausgebildeten Angreifer ist daher zentrale Aufgabe der Clubdefensive heute Abend.

Der Artikel erschien in leicht veränderter Fassung am 18. Oktober 2019 unter dem Titel „Gegen die statistische Wahrscheinlichkeit“ im Nürnberger Stadtanzeiger, dem gemeinsamen Lokalteil von Nürnberger Nachrichten und Nürnberger Zeitung, auf Seite 40.

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Der Charakter des Zweitligafußballs

Wie zweitligafußballig ist eigentlich Zweitligafußball?

Dem Klischee nach ist Zweitligafußball härter, defensiver und intensiver als der Fußball in der Erstklassigkeit. Begründet wird dies dann meist damit, dass die Qualität der Spieler in der Zweiten Liga geringer ist, als in der ersten, was zumindest eine logische Annahme für den Profisport ist. Doch lässt sich diese gefühlte Wahrheit eigentlich belegen?

1. Ist er härter?

Die einfachste Art, diese Frage zu beantworten, ist ein Blick darauf, wie oft in der Liga Foul gespielt wird. Hier gilt tatsächlich über alle Spielzeiten konstant: In der ersten Liga wird seltener gefoult als in der zweiten Liga.  So stehen in dieser Saison pro 90 Minuten 12,4 Fouls in der Zweiten Bundesliga, aber nur 11,85 Foulspiele in der Bundesliga zu Buche. Dabei ist der Unterschied zwischen den Ligen im Vergleich zum Vorjahr, wo die Differenz zu Saisonende fast zweieinhalb Fouls pro Spiel betrug, deutlich geschrumpft und dennoch in der Anzahl noch spürbar.

Die Vermutung, dass auf Grund der geringeren sportlichen Qualität der Verteidiger, häufiger zum Mittel des Fouls gegriffen wird, liegt nahe, lässt sich aber allein anhand von Statistiken natürlich nicht belegen. Dennoch ist auffällig, dass die Zahlen nicht nur für Deutschland, sondern tatsächlich für alle europäischen Top-Ligen (gemeinhin definiert als Bundesliga, Premier League, Serie A, Primera Division und Ligue 1) und ihre Zweiten Ligen gleichermaßen gelten.

Besonders groß ist der Unterschied in Italien, wo die Serie A in den letzten vier Spielzeiten konstant mehr als zwei Fouls pro Spiel weniger verbuchte als die Serie B, doch auch in den anderen Ländern liegt die Anzahl der Fouls in der Zweitklassigkeit immer höher als in der obersten Spielklasse. Insgesamt die wenigsten Fouls verzeichnet übrigens stets die Premier League. Diese liegt als einzige große Liga in Europa bei einem Schnitt von weniger als zehn Fouls pro 90 Minuten.

2. Ist er defensiver?

Verfügt man über weniger Qualität, so geht das Klischee, versucht man sich aufs Verteidigen zu konzentrieren, da es einfacher sei, Tore zu verhindern, als diese zu schießen. Blickt man auf die Anzahl der Tore, kommt man in der Tat zu dem Schluss: In der Zweitklassigkeit fallen weniger Tore als in der Erstklassigkeit. In dieser Saison ist der Schnitt für die Bundesliga 1,54 Tore pro 90 Minuten, für die Zweite Liga liegt der Schnitt bei 1,41. Bei neun Spielen pro Spieltag macht dies also im Schnitt ungefähr einen Treffer an jeden einzelnen Spieltag aus.

Historisch gesprochen ist dieser Abstand kein Ausrutscher, sondern die Norm. Egal welche Spielzeit in den letzten fünf Jahren man sich aussucht, gerechnet auf 90 Minuten fallen in der Bundesliga mehr Tore als in der Zweiten Liga. Eine weitere Tatsache, die tatsächlich europaweit gleich ist. Mit einer einzigen Ausnahme (Frankreich 2017/18) fielen in allen fünf großen europäischen Ligen – auf die Spielzeit gerechnet – stets mehr Tore als in den zugehörigen zweiten Ligen.

Es sei allerdings erwähnt, dass die 1,41 Tore pro 90 Minuten in der deutschen zweiten Liga immer noch mehr sind als die Werte aller anderen ersten und zweiten Ligen der Top-Nationen. In dieser Wertung folgt die Premier League, die in den letzten Jahren konstant um die 1,3 Tore pro 90 Minuten lag. Die wenigsten Tore fallen entgegen dem Klischee übrigens nicht in Italien, sondern in der zweiten spanischen Liga, deren Wert stets um die 1,1 pendelt.

Nun lässt sich zurecht einwerfen, dass allein die Anzahl der Tore nicht aussagekräftig hinsichtlich der defensiven Ausrichtung einer Liga ist. Vielmehr könnte dies ja auch einfach dafür sprechen, dass die Stürmer in der Zweitklassigkeit einfach schlechter sind als ihre Pendants in der ersten Liga und dies nicht allein durch den Klassenunterschied der Verteidiger aufgefangen wird, schlicht ist verteidigen ja angeblich einfacher als angreifen.

3. Ist er intensiver?

Es lohnt daher auch ein Blick auf einen Wert, den die Fußballstatistiker mit dem englischen Begriff „Challenge Intensity“ beschreiben. Dahinter verbirgt sich schlicht und ergreifend die Anzahl an geführten Zweikämpfen, Tacklings und abgefangenen Bälle pro Minute gegnerischen Ballbesitzes. Hierbei lässt sich beim Blick auf die vergangenen Spielzeiten wieder das gewohnte Bild feststellen: In jeder europäischen Topliga und ihrer zweitklassigen Entsprechung lag zu Saisonende der Wert in der zweiten Liga höher als in der ersten Liga.

Das heißt, es wurde in der Zweitklassigkeit intensiver um den Ball gekämpft als in der obersten Spielklasse. In dieser Saison bildet aber ausgerechnet die deutsche Zweite Bundesliga die Ausnahme in diesem Bild. Er liegt mit 6,17 Aktionen pro Minute gegnerischen Ballbesitzes tatsächlich niedriger als in der Bundesliga (6,29). Er liegt aber noch deutlich höher als in der Primera Division (5,84), Serie A (5,98) oder beiden französischen Ligen (5,43 bzw. 5,75).

Ähnliches lässt sich auch für den in dieser Kolumne schon mehrfach erwähnten PPDA-Wert sagen. Der Pressingindikator liegt in dieser Saison in der Zweiten Liga (10,97 gegnerische Pässe pro eigener Defensivaktion) erstmals unter dem der Bundesliga (10,51). Er liegt aber noch höher als in der Ligue 1 (12,02) oder der Premier League (11,63). Auch beim PPDA-Wert gilt in Betrachtung der letzten Spielzeiten europaweit: In der Zweitklassigkeit wird intensiveres Pressing gespielt als in der Erstklassigkeit. Am intensivsten in der zweiten spanischen Liga.

Insgesamt lässt sich also tatsächlich ein Bild vom Zweitligafußball in ganz Europa zeichnen, das den Klischees entspricht. Gleichzeitig fällt auf, dass dieses Klischee vor allem in Relation zum jeweiligen Oberhaus erfüllt wird, in der globalen Betrachtung ist Zweitligafußball dann doch überall ein wenig anders.

Der Artikel erschien in leicht veränderter Fassung am 11. Oktober 2019 unter dem Titel „Das ist so 2. Liga“ im Nürnberger Stadtanzeiger, dem gemeinsamen Lokalteil von Nürnberger Nachrichten und Nürnberger Zeitung, auf Seite 36.

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Taktiktafel: St. Pauli (H)

Der Trainer…

… sparte noch vor Saisonbeginn nicht mit Kritik. Vor dem ersten Saisonspiel setzte Jos Luhukay zu einer ungewöhnlich harschen Tirade an. „Zu viel Bequemlichkeit“ attestierte er St. Pauli man brauche „eine Mentalitätsveränderung.“ Nicht nur, dass Luhukay damit in direkter Opposition zu Dortmunds Marco Reus in Sachen Haltung in Mentalitätsfragen steht, er ließ kein gutes Haar an der eigenen Mannschaft. Man habe keinen Ausnahmespieler und zu viele verletzungsanfällige Akteure. Sein Fazit: „Mit dieser Mannschaft ist alles über Platz neun ein Riesenerfolg.“

Dabei hätte man auf Grund seiner Vita vermuten müssen, dass Andreas Rettig – St. Paulis einstiger Sportdirektor, der inzwischen durch Ex-Clubvorstand Andreas Bornemann abgelöst wurde – Luhukay für mehr als Platz neun geholt hat. Dreimal ist der Niederländer aus der Zweiten Liga aufgestiegen. Bei allen drei Aufstiegen zählten seine Teams (Gladbach, Augsburg, Hertha) zu den Mannschaften mit den wenigsten Gegentoren. Damit ist Luhukays Fokus auf die Defensive auch schon unterstrichen.

Ein eher untypischer Ansatz für einen Niederländer, möchte man meinen. Luhukay durchlief die Trainerausbildung allerdings in Deutschland und erachtet sich daher eher als deutscher denn als niederländischer Trainer. Da seine Aufstiegsteams aber auch immer zu den offensivstärksten der Liga gehörten, ist jene Sichtweise von Luhukay als defensivem Pragmatiker, die ihm gerade während seiner Zeit bei Sheffield Wednesday zum Verhängnis wurde, auch nur ein Teilaspekt seiner Arbeit. Was dagegen begründet erscheint, ist sein Ruf als Disziplinfanatiker, der im Umgang mit Spielern und Verantwortlichen nicht vor schroffen Tönen zurückschreckt. Ein Grund, warum er 2016 in Stuttgart nur vier Spiele im Amt war.

Die Grundordnung…

… scheint Luhukay so langsam gefunden zu haben. In den letzten sechs Spielen lief St. Pauli mit Ausnahme des Spiels in Kiel, wo man im 3-4-1-2 begann, stets im klassischen 4-2-3-1 auf. Auffallend war dabei auch, dass St. Pauli die Formation meist eher passiv abwartend auslegte. Es überrascht daher nicht, dass St. Pauli einen sehr niedrigen PPDA-Wert hat. Diese Statistik wird sein einigen Jahren erhoben, um den Pressingdruck einer Mannschaft zu messen.

PPDA steht dabei für Pässe pro Defensivaktion. Die Anzahl der gegnerischen Pässe wird dabei ins Verhältnis zu allen eigenen Defensivaktionen (Defensivzweikampf, abgefangener Ball, herausgeschlagener Ball, Foul, etc.) gesetzt. Je geringer der Wert, desto höher der Pressingdruck. Der FCN liegt in der aktuellen Saison mit einem Wert von 11,7 etwas über dem Ligaschnitt (11,1). Im Vorjahr hatte man in der Bundesliga mit 18,2 noch den schlechtesten PPDA-Wert aller Mannschaften in allen fünf europäischen Topligen in den letzten fünf Jahren erzielt hatte.

St. Paulis PPDA-Wert lag vor der Partie in Sandhausen bei 16,2. Nur Aue (16,6) war noch schwächer. In Sandhausen überraschte Luhukay dann mit wesentlich aktiverem und forscherem Pressing, so dass sich der Durchschnittswert leicht verschob. Ein Phänomen, das sich auch mit den letzten Spielen der Vorsaison unter Luhukay deckt, wo sich pressingarme und pressingintensive Spiele ebenfalls abwechselten.

Die letzten Spiele…

…  waren nach verkorkstem Start mit nur einem Punkt aus drei Spielen, erfolgreich. Seit fünf Spielen sind die Kiezkicker nun ungeschlagen. Das verbindet sie mit dem FCN, in dieser Phase holte St. Pauli sogar noch zwei Punkte mehr als der Club, da man ein Spiel mehr gewann.

Emotionales Highlight für die meisten Anhänger des FC St. Pauli war in dieser Zeit sicher der Derbysieg gegen den bis dahin – und seitdem – ungeschlagenen HSV. Gerade hier wich Luhukay sowohl von der Passivität als auch von strikten Rollen im Zentrum ab, ließ Møller Dæhli, Knoll und Becker ihre Positionen im Mittelfeld rotieren und übte speziellen Druck auf HSV-Sechser Adrian Fein aus, so dass dieser das Spiel nicht wie gewohnt lenken konnte. Gegen Sandhausen und Osnabrück spielte man dann wieder mit festeren Rollen und größerer Passivität.

Auch auffällig: Nur ein Zweitligist (Darmstadt) hat weniger Schüsse aufs Tor abgegeben als der FC St. Pauli. Die 13 Tore liegen dann auch leicht über dem Erwartungswert nach expected Goals: 11,63. Setzt man die beiden Zahlen allerdings in Relation fällt auf, dass nur zwei Zweitligisten einen besseren xG-Wert pro abgegebenem Schuss haben. Die Trefferwahrscheinlichkeit eines Schusses liegt statistisch bei St. Pauli bei 13,4 Prozent, man ist in der Schussauswahl also geduldig und sucht nicht sofort den Abschluss. Am anderen Ende des Spektrums liegt übrigens der FCN. Der xG-Wert eines einzelnen Torschusses beim Club: 8,8 Prozent.

Der Schlüsselspieler…

… spielte in der Jugend einst bei Manchester United. Mats Møller Dæhli ist mit sechs Vorlagen der beste Vorbereiter der Zweiten Liga. Der Norweger agiert im 4-2-3-1 als Zehner und ist die offensive Schaltzentrale des FC St. Pauli. Er ist auch das Gegenbeispiel zu Luhukays These, dass St. Pauli keinen Unterschiedsspieler besäße. Mit für einen Angriffsspieler enorm hohen 84% Passgenauigkeit für Pässe in die Angriffszone zeigt sich schon, wo Dæhlis Stärken liegen: Im Auge, im sicheren Abspiel und in der Kreativität.

So ist er dann auch der Spieler bei St. Pauli mit den meisten Pässen, die zu Abschlüssen führen. Selbst sucht er dagegen nur selten den Abschluss, gerade einmal zwei Ballberührungen im Strafraum stehen im Schnitt pro Spiel zu Buche. Da verwundert es dann auch nicht, dass Møller Dæhli trotz offensiver Rolle in 86 Profispielen in Deutschland nur auf sechs Tore. Es stehen aber auch 14 Vorlagen zu Buche. Im Ausschalten von Møller Dæhlis Pässen in die Spitze wird einer der Schlüssel des Spiels am Sonntag liegen, ein anderer darin, welchen Pressingansatz Luhukay am Ende wählt.

Der Artikel erschien in leicht veränderter Fassung am 3. Oktober 2019 unter dem Titel „Erfolgreich mit norwegischer Kreativität“ im Nürnberger Stadtanzeiger, dem gemeinsamen Lokalteil von Nürnberger Nachrichten und Nürnberger Zeitung, auf Seite 40.

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Taktiktafel: Hannover (A)

Der Trainer…

… war kurze Zeit einmal taktischer Vorreiter. Als Mirko Slomka in seiner ersten Amtszeit bei Hannover 96 zweimal in Folge in die Europa League führte – und dort einmal sogar ins Viertelfinale – sprachen viele in Fußballdeutschland von seiner „Zehn-Sekunden-Regel“. Slomka hatte postuliert, dass nach Balleroberung möglichst binnen zehn Sekunden zum Abschluss gebracht werden sollte. Denn, so Slomka, in der Regel benötige eine Mannschaft etwa zehn Sekunden, um sich wieder in die Grundordnung zu bewegen, so lange habe man Zeit, die Unordnung auszunutzen.

Irgendwann fanden die Gegner aber ein Gegenmittel, die Reorganisation nach Ballverlust lief schneller und Slomka war entzaubert. Auf die Entlassung zur Winterpause 2013/14 in Hannover folgten Kurzauftritte: 2014 hielt Slomka mit dem HSV die Klasse, obwohl man nur eins der letzten elf Spiele gewann. Nach einem Bundesligastart mit drei weiteren Spielen ohne Sieg war dann aber in Hamburg Schluss. Im Januar 2017 beim KSC ging es Slomka nicht besser. Nach acht Punkten aus zehn Partien war das Engagement in Karlsruhe beendet. Slomka blieb ohne Anstellung, bis er im Sommer erneut bei Hannover anheuerte, wo er in acht Spielen auf acht Punkte kam.

Die Grundordnung…

… hinterlässt noch etwas Fragen hinsichtlich der Kaderstruktur. Mirko Slomka setzt zwar nicht mehr so massiv auf schnelles Umschalten wie vor zehn Jahren, aber Tempo und Vertikalität sind dennoch immer noch wichtige Elemente von Hannovers Spiel. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass man in der Liga die höchste Erfolgsquote bei Dribblings hat, gleichzeitig aber auch einen der höchsten Werte in Sachen lange Bälle hat: Erst kommt der lange Schlag und wenn der ankommt, das Dribbling. Für diesen Aspekt des Spiels ist der Kader mit Spielern wie Teuchert, Muslija und Maina auch sehr gut geeignet.

Anders sieht es mit der Flügellastigkeit des Spiels aus. Viele Angriffe der Niedersachen laufen über die Außenbahnen, dort kamen mit Teuchert und Muslija aus Ermangelung an Alternativen aber zuletzt auch Spieler zum Zuge, die von ihrer Anlage her eher im Zentrum anzusiedeln wären.  96 löste jenes Problem in den Spielen meist geschickt, indem es auf hohe Flanken von der Seite verzichtete und stattdessen die Bälle flach in die Mitte spielte. In Sachen Flankenpräzision hat Hannover dann auch mit 29 Prozent angekommenen Flanken den drittschlechtesten Wert der Liga. Der FCN ist allerdings noch schwächer (26%).

In der Grundformation wechselt Mirko Slomka noch viel durch. Wurde vor der Länderspielpause meist im 3-4-1-2 gespielt, agierte Hannover in den letzten zwei Spielen mit einem 4-2-3-1. Man wechselte als wie der FCN auch zwischen Dreier- und Viererkette in der Abwehr, ohne dass die eine oder die andere Variante mehr oder weniger Zugriff auf die Angreifer versprach.

Die letzten Spiele…

… erinnerten ebenfalls in vielerlei Hinsicht ein wenig an den 1. FC Nürnberg: Ein Absteiger, der mit den Erwartungen um den Aufstieg mitspielen zu müssen kämpft. Ein neuformierter Kader, der zu sich finden muss. Ergebnisse, die insgesamt unzureichend. Eine hohe Niederlage gegen den HSV. Zwei Unentschieden vor heimischer Kulisse. Auch tabellarisch liegen der Club und Hannover – wie in der Vorsaison – wieder nebeneinander.

Gemeinsam haben beide Teams auch, dass es ihnen bisher oft schwer fiel, in die von beiden Trainern gern gesehenen Temposituationen zu kommen und gerade beim Aufbauspiel oft die Lücken zwischen den Mannschaftsteilen groß waren, so dass die Struktur hier verloren ging. Doch während sich für den Club dennoch eine erhebliche Summe an Abschlüssen ergibt – 106, nur Stuttgart hat mehr – kommt Hannover selten zum Torabschluss: 74 Schüsse sind der zweitgeringste Wert der Liga.

Der Schlüsselspieler…

…  spielt kaum Fehlpässe, gibt dem Spiel das Tempo vor und hat dem FCN einst ein eine Derbyniederlage beschert: Edgar Prib. Der Ex-Fürther lief in den letzten beiden Spielen, als Marvin Bakalorz nicht in der Startelf stand, sogar als Kapitän von Hannover auf. In die vergangenen beiden Spielzeiten fehlte Prib fast komplett wegen zwei Kreuzbandrissen, nun ist das Produkt des Fürther Nachwuchsleistungszentrums wieder dabei und muss gleich eine wichtige Rolle einnehmen.

In dieser Saison stand Prib trotz zuvor 67 in Folge verpassten Pflichtspielen immer in der Startelf, war meist bis zum Schluss dabe und agierte immer im zentralen Mittelfeld und nicht wie früher oft auf der Außenbahn. Dabei ist der 29-Jährige sowohl für das Pressing wichtig, da er oft Druck auf den gegnerischen Sechser ausübt, als auch für das Einleiten des eigenen Angriffsspiels vor der Abwehr. Gleichzeitig ist er auch oft derjenige, der das Tempo bestimmt, indem er sich für den strategischen Rückpass entscheidet. Seine Passquote bei diesen Rückpässen: Fehlerlose 100%. Etwas, das bei keinem Nürnberger Mittelfeldspieler zu Buche steht.

Doch auch wenn die Pässe nicht rückwärts gespielt werden, ist Prib noch ein präziser Passspieler, bringt 70 Prozent aller Vorwärts- und 90 Prozent aller Querpässe an. Gleichzeitig ist er der Mittelfeldspieler mit den meisten abgefangenen Bällen pro Spiel und den zweitmeisten erfolgreichen Defensivaktionen, bildet egal ob neben Bakalorz, Haraguchi oder Aogo das Herz des Spiels von Hannover 96.

Der Artikel erschien in leicht veränderter Fassung am 27. September 2019 unter dem Titel „Ein Fürther Junge als Herzstück“ im Nürnberger Stadtanzeiger, dem gemeinsamen Lokalteil von Nürnberger Nachrichten und Nürnberger Zeitung, auf Seite 36.

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Taktiktafel: Karlsruhe (H)

Der Trainer…

… ist nach Hecking und Schmidt der dritte gegnerische Coach mit Clubvergangenheit. Alois Schwartz war Nachfolger von René Weiler und Vorgänger von Michael Köllner. Im Gegensatz zu ihnen feierte Schwartz keine Erfolge mit dem Club, wurde nach einem 0:1 gegen Fürth und vier Punkten aus sechs Rückrundenspielen entlassen. Neben der Außendarstellung, die oft so wirkte, als sei Nürnberg Schwartz einfach ein wenig zu groß, war die Hauptkritik am 52-Jährigen tatsächlich fußballerisch: Defensiv, antiquiert, einfallslos, langweilig waren die Adjektive, mit denen die Spielweise des FCN beschrieben wurde.

Zumindest in Sachen „defensiv“ würde Schwartz seinen Kritikern wahrscheinlich nicht widersprechen. Fußball unter Alois Schwartz lebt von der defensiven Stabilität, weswegen er im Gespräch mit der Pforzheimer Zeitung unumwunden zugibt, dass ihn die hohe Zahl an Gegentoren in dieser Saison – nur bei Wiesbaden und Bochum stehen mehr zu Buche – wurmt: „Wir haben zu viele Gegentore hinnehmen müssen. Die Balance zwischen Offensive und Defensive müssen wir wieder verbessern. Aber: Im Moment wird jeder Fehler, der uns unterläuft, bestraft.“

Die Grundformation…

… war in der Liga mit Ausnahme von wenigen Minuten stets ein 4-4-2. Allerdings wechselt Alois Schwartz die Formation je nach Gegner und Spielsituation zwischen einem flachen 4-4-2 und einem 4-4-2 mit Raute. Die Frage, die sich für Alois Schwartz also stellt, ist, ob er gegen das 3-3-2-2 von Damir Canadi auf eine doppelte Besetzung der Außen setzt oder lieber das Zentrum stärkt. Im flachen 4-4-2 würden gegen die Flügelverteidiger des FCN, welche nominell die Seiten allein beackern, zwei Spieler stehen. Im 4-4-2 mit Raute dagegen würde man dem numerisch stark besetzten Mittelfeldzentrum mit eigener Kompaktheit entgegengetreten.  

Das 4-4-2 mit Raute wurde zu Beginn der 2000er Jahre durch die Erfolge von Werder Bremen präsent, wird aber auf Grund dessen, dass es nur mit starken Außenverteidigern nicht flügellahm ist und zusätzlich eines kreativen Spielmachers bedarf, inzwischen nur noch selten von Trainern als primäres System gewählt. Egal mit welcher Grundformation Schwartz auflaufen lässt, ist sein grundsätzlicher Ansatz, dass aus einer kompakten Defensive schnell umgeschaltet und nach vorne gespielt werden soll. Das führt dazu, dass der KSC kein Team ist, das Ballbesitzfußball spielt und in dieser Kategorie ligaweit den vorletzten Platz belegt.

Die letzten Spiele…

… waren eine Sache von Serien: Erst gab es in Pokal und Liga drei Siege am Stück, dann setzte es drei Niederlagen. Im ersten Spiel nach der Länderspielpause gewann der KSC jetzt wieder. Beim 1:0 gegen Sandhausen blieb der KSC erstmals in dieser Zweitligasaison ohne Gegentor. Dennoch zeigte sich die Karlsruher Defensive auch im Nachbarschaftsduell nicht immer sattelfest. Wie in den Spielen zuvor taten sich die Badener mit tief in den Raum vor die Innenverteidiger gespielten Bällen schwer. Egal ob die gegnerischen Angreifer den Ball auf nachrückende Spieler verteilten oder selbst mit Tempo verarbeiteten, hier fehlte Pisot und Gordon im Abwehrzentrum oft die Fähigkeit zum Zugriff. Etwas, das der Club in Form von Michael Frey ausnutzen könnte.

Andererseits waren die Karlsruher bisher in der Offensive nach hohen Hereingaben überdurchschnittlich gefährlich. Sechs der zehn Karlsruher Tore fielen nach hohen Bällen, hinzu kamen eine nicht unerhebliche Zahl an Gelegenheiten nach Standards und Flanken. Ligaweit hat der KSC die beste Quote in Sachen gewonnene Kopfballduelle und zieht einen wesentlichen Teil seiner Offensivstärke aus diesem Fakt. Gerade im Hinblick auf die Probleme, die sich in der Club-Deckung in Darmstadt in Sachen Kopfballspiel offenbarten, wird hier ein Ansatzpunkt der Gäste morgen liegen.

Der Schlüsselspieler…

…  ist mit vier Vorlagen in sechs Spielen derzeit unter den besten Vorbereitern der Liga. Marvin Wanitzek tritt beim KSC die Ecken von rechts und bereitete so Philipp Hofmanns Kopfballtore in Wehen und gegen Dresden vor. Ein Teil der Standardstärke Karlsruhes rührt also aus Wanitzeks Fähigkeiten am ruhenden Ball, denn auch Wanitzeks zweite Vorlage auf Hofmann gegen Dresden war technisch gesehen ein Standard. Allerdings war es ein schnell ausgeführter flacher Freistoß.

Darüber hinaus ist Wanitzek aber auch dann, wenn der Ball rollt, im zentralen Mittelfeld Schaltzentrale des KSC-Spiels. Im flachen 4-4-2 bildet er mit Fröde die Doppel-Acht, im 4-4-2 mit Raute spielt Wanitzek auf der Zehn. Der in Hoffenheim und Stuttgart ausgebildete Badener taucht in fast allen statistischen Kategorien mannschaftsintern an der Spitze auf: Egal ob erfolgreiche Dribblings, gewonnene Offensivzweikämpfe, geschlagene Flanken, gespielte Steckpässe oder eroberte Bälle, Wanitzek ist stets unter den besten drei Karlsruhern. Die Spieler vor ihm sind aber in jeder Kategorie andere.

Viel wird morgen also davon abhängen, wie Johannes Geis den 26-Jährigen in den Griff bekommt und ob der Club wenige Standards zulässt. Denn, wenn Wanitzek von rechts und Marc Lorenz von links genug Ecken und Freistöße schlagen dürfen, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass ein Ball den Kopf von Hofmann, Gordon oder Pisot findet und der von dort den Weg ins Club-Tor.

Der Artikel erschien in leicht veränderter Fassung am 20. September 2019 unter dem Titel „Auf der Suche nach der Balance“ im Nürnberger Stadtanzeiger, dem gemeinsamen Lokalteil von Nürnberger Nachrichten und Nürnberger Zeitung, auf Seite 36.

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Taktiktafel: Darmstadt (A)

Der Trainer…

… ist in seiner ersten Station als Profitrainer. Dimitrios Grammozis war zuvor fünf Jahre lang in verschiedenen Funktionen beim VfL Bochum tätig, ehe ihn Darmstadt als Nachfolger von Dirk Schuster engagierte. Gleich in der Pressekonferenz zum Amtsantritt legte der 40-Jährige seine Fußballphilosophie dar: „Ich bin ein Trainer, der nicht so gerne in eine Schublade gesteckt wird. Man muss sich immer an die Gegebenheiten anpassen. Aber darüber hinaus ist es am wichtigsten, Lösungen für das nächste Spiel zu finden.“

Dieser eher pragmatische Ansatz zeigte Wirkung. Nachdem unter Schuster in 22 Spielen 23 Punkte geholt wurden, fuhren die Lilien unter Grammozis 2018/19 in elf Spielen 20 Punkte ein. In jenem Zeitraum waren nur Sandhausen und Bielefeld besser. In Grammozis‘ Pragmatismus war auch beinhaltet, dass er nicht versuchte, der Mannschaft den typischen „Dirk-Schuster-Fußball“, d.h. defensive Stabilität, offensiv langer Hafer, auszutreiben, sondern baute darauf auf.

Die Grundordnung…

… soll nun aber so langsam wegführen vom klassischen Fußball wie ihn Schuster in zwei Amtszeiten in Darmstadt mit unterschiedlichem Erfolg spielen ließ. Grammozis legt zwar weiter wert auf die Defensive, versucht aber in der Offensive mehr flaches Passspiel und kontrollierten Aufbau zuzulassen. Dabei ist auffällig, dass das Spiel sehr darauf ausgelegt ist, mit Tempo vor das gegnerische Tor zu kommen. Dadurch, dass auf rechts mit Marcel Heller (siehe Schlüsselspieler) ein Spieler mit hoher Endgeschwindigkeit auf dem Platz steht, wird der Spielaufbau fast zwangsläufig extrem rechtslastig.

In Sachen Grundformation wechselt Grammozis zwischen einem flachen 4-4-2 und dem klassischen 4-2-3-1. Beide Formationen wirken aber durch die Rechtslastigkeit des Spiels oft assymetrisch, da Heller in der Regel deutlich offensiver agiert als Skarke. Abhängig davon wie der Rechtsverteidiger auf den Vorwärtsdrang reagiert, ergeben sich entweder direkt hinter Heller im Mittelfeld – falls der Rechtsverteidiger nicht konsequent nachschiebt, wozu Herrmann neigt – oder hinter dem Rechtsverteidiger – falls er nachschiebt, wozu Egbo neigt – Räume, die man ausnutzen kann.

Gegen Sandhausen spielte Heller überraschend auf der linken Seite. Ob das nur eine Maßnahme war, um den Sandhäuser Rechtsverteidiger Dennis Diekmeier zu binden oder eine dauerhafte Umstellung, bleibt abzuwarten.

Die letzten Spiele…

… blieb der SV Darmstadt 98 torlos. Das letzte der insgesamt nur drei Saisontore fiel am zweiten Spieltag gegen Holstein Kiel per Strafstoß. Ohne Hilfe durch einen schweren Fehler des Gegners haben die Lilien noch gar keinen Treffer erzielt. Sucht man für die Gründe der offensiven Probleme der Hessen findet man sie schnell in den Aufbaustatistiken: Darmstadt hat nicht nur den geringsten Ballbesitz der Liga, es spielt auch die wenigsten und ungenausten Pässe ins letzte Spielfelddrittel.

Hinzu kommt, dass jene Adjektive, auch für die Pässe, die zu substantiellem Raumgewinn führen, zutreffen. Darüber hinaus hat Darmstadt den höchsten Anteil an Ballbesitzphasen, die 5 Sekunden oder kürzer dauern. Sprich: Darmstadt hat den Ball schon nicht sonderlich oft und dann ist er oft auch schnell wieder weg. All das hat zur Folge, dass Darmstadt zu selten in Abschlusssituationen kommt: An den ersten fünf Spieltagen hatte kein Zweitligist weniger Ballberührungen im gegnerischen Strafraum und nur zwei Teams (Regensburg und St. Pauli) schossen seltener aufs Tor.

Zu den offensiven Problemen kommt beim Clubgegner vom Sonntag aber auch eine gewisse defensive Passivität: Darmstadt kommt statistisch auf die geringste Pressingintensität, die schwächste Zweikampfquote bei Defensivzweikämpfen und die wenigsten Balleroberungen, sowohl insgesamt als im Mittelfeld, wo die Balleroberungen für die Spielkontrolle besonders wichtig sind. Es verwundert also nicht, wenn nur ein Verein (Heidenheim) mehr Torschüsse zulassen musste.

Der Schlüsselspieler…

…  hat seinen eigenen Reim: „Keiner ist schneller als Marcel Heller“. Rein faktisch kommt die Aussage der Wahrheit sogar nah: Heller wurde regelmäßig mit mehr als 35 km/h Höchstgeschwindigkeit gemessen. So verwundert es auch nicht, dass viele Aspekte des taktischen Vorgehens von Darmstadt in dieser Spielzeit bisher darauf beruhten, die Schnelligkeit des 33-Jährigen – und seines zehn Jahre jüngeren Pendants auf der Gegenseite, Tim Skarke – auszunutzen.

Das führt dazu, dass Heller, obwohl nominell in der Regel rechter Mittelfeldspieler, in den realtaktischen Aufzeichnungen der Positionen während des Spiels auf Höhe der vordersten Angriffslinie zu finden ist. So ist Heller dann auch mit weitem Abstand der Darmstädter mit den meisten Flanken, den meisten erfolgreichen Dribblings und meisten gelungenen Offensivaktionen. Selbst zum Abschluss kommt der Ex-Frankfurter aber kaum: Es stehen lediglich zwei Torschüsse zu Buche.

Der Artikel erschien in leicht veränderter Fassung am 13. September 2019 unter dem Titel „Deutlich rechtslastig“ im Nürnberger Stadtanzeiger, dem gemeinsamen Lokalteil von Nürnberger Nachrichten und Nürnberger Zeitung, auf Seite 36.

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Taktiktafel: Nürnberg (Canadi)

Der Trainer…

… hat seine Vorstellung vom Fußball einst in einer Präsentation vor dem Bund Österreichischer Fußballlehrer dargelegt. Dort fallen in der Beschreibung seiner Spielweise bei Atromitos Athen Sätze wie: Es solle nach Ballgewinn „schnell in die Spitze gespielt werden, gegen eine unorganisierte Abwehr“, man müsse „bei Ballgewinn sofort den Weg in die Tiefe suchen“, es gehe um „schnelles Überwinden des freien Raums“ und ein „hohes Tempo des Balles“. Gepaart mit der defensiven Marschroute „aggressiv den Ball jagen, nach vorne verteidigen“ und der eingeforderten „ballorientierten Raumdeckung“ ergibt sich eine recht klare Vorstellung vom Fußball.

Canadi will Tempo und Aggressivität sehen und zielstrebiges Spiel in die Spitze: „Wir wollen immer das Spiel bestimmen, auch wenn der Gegner den Ball hat.“ Auch wenn er sicher nicht alle Ideen wortgleich nach Nürnberg übernommen hat, fällt auf: Zu Saisonbeginn hat sich die Mannschaft mit der Umsetzung der Ideen schwergetan.

Sie hat dabei hat nach fünf Spielen allerdings genauso viele Punkte geholt wie Atromitos bei seinem Start unter Canadi – wenn auch in unterschiedlicher Zusammensetzung. Während es bei Atromitos vier Remis und einen Sieg gab, waren es in Nürnberg zwar doppelt so viele Siege, aber auch zwei Niederlagen. Was an beiden Stationen aber gleich ist: Es dauert, bis sich die Mannschaft an die Spielweise von Damir Canadi gewöhnt hat.

Die Grundordnung…

… wurde lange gesucht: In Dresden stellte man früh von 3-4-3 auf 3-4-1-2 um. Das 5-4-1 gegen Hamburg war nach einer halben Stunde gescheitert, es folgten Versuche mit einem flachen 4-4-2 im Rest des Spiels und einem 4-1-4-1 in Ingolstadt und Sandhausen. Dort kehrte man dann nach 20 Minuten wieder zum 4-4-2 zurück – und spielte dennoch eine der schlechtesten Halbzeiten des letzten Jahrzehnts.

Zum Spiel gegen Osnabrück – und mit der Ankunft von Michael Frey – ließ Damir Canadi die FCN dann in einer Formation auflaufen, die wohl am ehesten als 3-3-2-2 mit dem Ball und 5-3-2 gegen den Ball notiert werden kann: Vor der Dreierreihe agiert Geis als alleiniger Sechser, während die beiden Flügelverteidiger die Außenbahnen nominell alleine besetzen, tatsächlich aber sowohl von den beiden „Achtern“ unterstützt werden.

Auffallend hier, dass Canadi die zentralen Mittelfeldpositionen gegen Osnabrück mit zwei Flügelspielern (Medeiros, Hack) besetzte – und dies ohne Medeiros‘ Verletzung gegen Heidenheim womöglich wieder getan hätte. Durch deren natürlichen Impuls nach Außen zu ziehen erhielten die Flügelverteidiger immer wieder Unterstützung. Phasenweise wurde dies sogar dadurch verstärkt, dass auch Nikola Dovedan, der als hängende Spitze agierte, auf den Flügel begab.

Die letzten Spiele…

… zeigten spielerisch eine Entwicklung näher an Canadis Vorstellung vom Fußball heran. Gerade in den ersten drei Ligaspielen wirkten Trainer und Mannschaft noch wie zwei Menschen, die beide vom Strauß sprechen, doch während der eine einen schnellen Vogel meint, geht es dem anderen um einen toten Politiker. Denn missversteht man Canadis Anweisung, den tiefen Pass als erste Option nämlich so, dass der tiefe Pass die einzige Option ist, kommt dabei– wie in den ersten Saisonspielen – unansehnlicher Fußball heraus: Der Ball wird immer sofort planlos nach vorne gespielt.

Die Folge: Der FCN hatte in den ersten drei Saisonspiele im Schnitt gerade einmal drei tiefe Pässe, die innerhalb eines 20-Meter-Radius um das gegnerische Tor zum Mann kamen und nur 9,33 Ballbesitzphasen im gegnerischen Strafraum. Wie schwer jene Zahlen es machen, zu Abschlüssen zu kommen, zeigt sich darin, dass der Club in den ersten drei Spielen nur 22 Torschüsse hatte. Daraus drei Punkte und drei Tore zu generieren spricht entweder für Glück oder für Abschlussstärke, sicherlich aber nicht für strukturierten Aufbau.

In den folgenden beiden Spielen änderte sich das Bild. Die angekommenen tiefen Pässe vervierfachten sich auf zwölf pro Spiel, die Ballbesitzphasen im Strafraum stiegen auf 17,5 und die Torschüsse nahezu folgerichtig auf 42. Hätte der Club nicht 112 Sekunden Tiefschlaf gegen Heidenheim eingelegt, die Verbesserung in den beiden letzten Spielen hätte sich auch mit der vollen Punktzahl niedergeschlagen.

Die Schlüsselspieler…

…  sind zwei späte Neuzugänge: Michael Frey und Johannes Geis. Beide sind für die Spielweise von Damir Canadi von enormer Wichtigkeit. Geis als Passgeber in die Tiefe und Frey als Passempfänger in der Tiefe. Die Verbesserung beim Spiel in Tornähe lässt sich an den beiden gut festmachen. 

Frey zeigte in den ersten beiden Spielen viel Präsenz, führte viele Zweikämpfe und berührte den Ball in den zwei Spielen fast genauso oft im Sechzehnmeterraum wie der gesamte FCN in den drei Spielen zuvor. Die Vorlage auf Nikola Dovedan gegen Heidenheim kam daher auch nicht von ungefähr, sondern symbolisiert Freys Spielweise: Körperlich, kopfballstark, teamorientiert.

Geis fiel gegen Osnabrück und Heidenheim auf Grund seiner Fernschusstore besonders auf. Seine Qualität liegt aber vor allem in der Ballverteilung. Seit seiner Ankunft beim Club spielte keiner mehr Bälle ins Angriffsdrittel. Aber er spielt sie nicht nur, sie kommen auch in mehr als drei von vier Fällen an, ein hoher Wert für Bälle in die gegnerische Verteidigungszone. Erst recht, wenn man bedenkt, dass Geis die Pässe meist aus der Tiefe spielt.

Der Artikel erschien in leicht veränderter Fassung am 6. September 2019 unter dem Titel „Eine Annäherung in sechs Fußballspielen“ im Nürnberger Stadtanzeiger, dem gemeinsamen Lokalteil von Nürnberger Nachrichten und Nürnberger Zeitung, auf Seite 36.

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Taktiktafel: Heidenheim (H)

Der Trainer…

… hat sein erstes Spiel als Trainer in Nürnberg mit 6:1 verloren. Im Dezember 2008 trat der Aufsteiger Heidenheim in der Regionalliga Süd bei der Zweitvertretung des FCN an und kam böse unter die Räder. Damals wie heute auf dem Platz: Marc Schnatterer und Enrico Valentini. Damals wie heute neben dem Platz: Frank Schmidt. Seit 2007 betreut Schmidt den FC Heidenheim, stieg dreimal auf und nie ab. Dass der gebürtige Heidenheimer als junger Spieler sogar einen Einsatz für den FCN im DFB-Pokal hatte und zwei Jahre später tatsächlich mit dem TSV Vestenbergsgreuth den FC Bayern aus dem Pokal kegelte, wirkt daher fast unwirklich.

Schmidt hat schließlich seine Nische in Heidenheim gefunden und ist inzwischen der am längsten amtierende Trainer im deutschen Profifußball. Immer wieder hebt Schmidt in Interviews hervor, dass das Fachliche (Taktik, Trainingslehre, Sportwissenschaft) für ihn zwar wichtig sei, das Menschliche und die Kommunikation aber an erster Stelle stehe. Wer Schmidt als Protagonisten des Films „Trainer!“ von Aljoscha Pause erlebt hat, der weiß, dass dies keine Worthülsen sind. Schmidt sucht das Gespräch mit seinen Spielern und Mitarbeitern, versucht die Idee des „familiären Clubs mit professionellen Strukturen“ zu leben.

Diese Einstufung bedeutet nicht, dass Schmidt nicht auch Vorstellungen davon hat, wie der Fußball auszusehen hat, den seine Mannschaft spielt. Er versucht nur, wie eigentlich alle lange Zeit erfolgreichen Trainer, die Balance zwischen Taktik und Motivation, zwischen Herz und Verstand zu finden.

Die Grundformation…

… sucht der bekennende Pragmatiker Schmidt nach zahlreichen prominenten Abgängen noch. Ungewöhnlich oft wechselte Frank Schmidt die Grundformationen, probierte viel aus, setzte in Dresden sogar erstmals seit mehr als drei Jahren bei Anpfiff auf eine Dreierkette. In der Regel aber ist die Grundordnung bei Heidenheim ein 4-4-2, bei welchem dem Gegner mehr Ballbesitz hat und Heidenheim nach Balleroberung schnell kontert. In Sachen Ballbesitz waren die Brenzstädter seit dem Aufstieg 2014/15 stets am Tabellenende zu finden, in der echten Tabelle dagegen nie schlechter als Rang 13.

Schmidt fasst diese Haltung dann gegenüber der „Zeit“ auch selbstreflektiert zusammen: „Mein Fußball ist kein Ballbesitzfußball, es soll bei mir in beide Richtungen so schnell wie möglich gehen. Wir schießen viele Kontertore, generell fallen bei uns viele Tore. Mein Ziel ist es, immer aktiv zu sein, ein Spiel nie nur zu verwalten.“

Die letzten Spiele…

… waren eher ernüchternd. Auf einen Auftaktsieg gegen Osnabrück, der allerdings von einem Platzverweis gegen den Aufsteiger begüngstigt war, folgte ein spätes 2:2 gegen Absteiger Stuttgart. Nach dem 2:0-Sieg gegen Ulm im Pokal setzte es dann aber zwei Niederlagen in Dresden und zu Hause gegen Heidenheim.  Eines der Grundprobleme bisher: Die Formation im Sturm ist noch nicht gefunden. Mit Glatzel (Cardiff City) und Neu-Nürnberger Dovedan hat Heidenheim seine beiden Stammkräfte im Angriff und absolute Leistungsträger verloren.

Diese konnten bislang nicht gleichwertig ersetzt werden. Trainer Schmidt hat im Sturm in den letzten Wochen daher einiges ausprobiert: Thomalla und Schmidt mit 4-4-2-Unterstützung, Thomalla alleine im 4-4-1-1, Otto alleine im 4-2-3-1, Otto und Leipertz als Doppelspitze im 3-5-2, Thomalla, Otto und Schimmer als Dreiersturm im 3-4-3 und Schimmer und Thomalla als Doppelspitze im 4-4-2. Eine bevorzugte Ordnung hat sich daraus bisher nicht ergeben. Auch einer der Gründe, warum Heidenheim in den letzten drei Partien lediglich ein einziges eigenes Tor aus dem Spiel erzielte.

Ebenso auffällig: Von den Gegentoren der Heidenheimer, die nicht aus Elfmeter oder direktem Freistoß entstanden, fielen vier von fünf nach Flanken. Etwas anfälliger erscheint hier die rechte Abwehrseite, insbesondere dann, wenn Innenverteidiger Patrick Mainka herausrücken muss, um die Flanken zu verteidigen. Aber auch Rechtsverteidiger Marnon Busch verteidigt derzeit schwach gegen Flanken und versucht damit das Bonmot von Gianluca Vialli, dass der Rechtsverteidiger stets der schlechteste Fußballer auf dem Platz ist, da ein offensivstärkerer Spieler Rechtsaußen und ein defensivstärkerer Spieler Innenverteidiger wäre, zu beweisen. Mit Angriffen über die eigenen linken Offensivseite hat der Club also womöglich einen Ansatzpunkt für seine Angriffe.

Der Schlüsselspieler…

… ist nicht länger der ewige Marc Schnatterer. Das spielende Urgestein ist zwar immer noch wichtig, ist aber bislang noch nicht so recht in Fahrt gekommen. Vier Torschüsse in vier Spielen, kein Tor, keine Vorlage und verhältnismäßig viele Ballverluste deuten darauf hin, dass sich die 33 Jahre bei Schnatterer inzwischen doch bemerkbar machen. Auch wenn die Angriffe in dieser Saison überproportional über links laufen, ist Schnatterer auf der rechten Seite und in der Hierarchie mit seiner Erfahrung immer noch von enormer Bedeutung. Auf dem Platz jedoch ist ein anderer der wichtigste Akteur: Niklas Dorsch.

Vor einem Jahr auch vom Club umworben, entschied sich der 20-Jährige aus der Bayern-Jugend bewusst für einen Wechsel in die Zweite Liga, um dort Spielzeit und Erfahrung zu sammeln. Inzwischen ist er im zentralen Mittelfeld Lenker und Antreiber des Heidenheimer Spiels. Mit herausragenden Passwerten von um die 90 Prozent, die selbst wenn man Quer- und Rückpässe herausrechnet noch bei 80 Prozent liegen, bestimmt Dorsch das Tempo und die Richtung des Spiels. Darüber hinaus ist er auch noch Heidenheims wichtigster Balleroberer, der viele Zweikämpfe sowohl mit als auch gegen den Ball führt.

Der Artikel erschien in leicht veränderter Fassung am 30. August 2019 unter dem Titel „Auf der Suche nach einer Grundordnung“ im Nürnberger Stadtanzeiger, dem gemeinsamen Lokalteil von Nürnberger Nachrichten und Nürnberger Zeitung, auf Seite 36.

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Taktiktafel: Osnabrück (H)

Der Trainer…

… bezeichnet sich selbst als „Kind der Stadt“, ist also ein echter Osnabrücker, selbst wenn er wenige Kilometer außerhalb der Stadtgrenzen in Georgsmarienhütte geboren wurde. Der heute 45-Jährige war bereits als Spieler sechs Jahre beim VfL. Im Oktober 2017 war Thioune Nachwuchskoordinator und U19-Trainer des VfL, als ihm die Nachfolge von Urgestein Joe Enochs angetragen wurde.

Der Start war holprig, drei von vier Spielen als Interimstrainer gingen verloren, darunter ein 2:3 gegen den FCN im Pokal. Dennoch machte die Vereinsspitze Thioune zum Chef und ließ davon auch nicht ab, als der VfL die Saison 2017/18 mit dreizehn Pflichtspielen ohne Sieg abschloss. Das Vertrauen machte sich bezahlt: Ein Jahr später stieg Osnabrück als Drittligameister auf. Ex-Spieler Alexander Dercho macht Thioune für den Erfolg verantworlich: „Der Trainer gibt uns viel Input, neue Ideen und fördert und fordert uns in jedem Training. Er hat der Mannschaft von Anfang an eine Siegermentalität eingeimpft.“ Thioune selbst betont vor Saisonstart jene Siegermentalität: „Wir wollen die Liga nicht nur halten, sondern wir wollen sie bereichern. Ich will über den VfL Osnabrück hören: ‚Schön, dass ihr wieder da seid, und es macht Spaß, euch zuzusehen.'“

Die Grundordnung…

… liegt nicht in der Formation. In den ersten vier Pflichtspielen nutzte der VfL fünf verschiedenen Grundformationen mindestens 30 Minuten lang: 5-4-1, 4-2-3-1, 4-4-2, 3-4-3, 3-4-1-2. Was nach Zahlensalat aussieht, stellt sich als einer der Erfolgsfaktoren in Sachen Aufstieg heraus. Osnabrück reagiert sehr oft auf Entwicklungen im Spiel. Nur knapp die Hälfte aller Spiele wurde mit der gleichen Grundordnung durchgespielt.

Thioune liegt mit seiner Flexibilität im Trend. Auch wenn gegen Ende der vergangenen Saison das Umstellen von Formationen und Systemen während eines Spiels von einigen Bundesligaprofis wie Hoffenheims Kramaric („Wir wechseln zu oft das System während des Spiels. Wir sind nicht bereit dafür.“) scharf kritisiert wurde, gehört das Umstellen der Herangehensweise in Reaktion auf den Gegner inzwischen zum Handwerk vieler Trainer. Wichtig ist es dabei, die Balance zu finden zwischen notwendiger Reaktion und Durchsetzung eigener Vorhaben.

Statt einer steten Grundformation gibt es ein anderes Grundprinzip: Das direkte Spiel nach vorne. Der VfL spielte in vielen Partien um die Hälfte seiner Pässe nach vorne. Die meisten Mannschaften kommen hier nur auf Werte um ein Drittel. Mit den vielen Vorwärtspässen eng verbunden: Osnabrück war Ligaspitze in Sachen angekommene Pässe in Tornähe. Dies bedeutet, dass der VfL viele Pässe nah am Tor zum Mann bringt und sich so natürlich auch mehr Abschlusschancen erspielen kann.

Dementsprechend waren die Niedersachsen auch in Sachen Ballkontakte im gegnerischen Strafraum weit vorne zu finden. Beides Kategorien, in denen der FCN in der Bundesliga 2018/19 am Tabellenende stand und dies auch jetzt nach drei Spieltagen in der Zweiten Liga wieder tut, obwohl es Damir Canadis Ziel eigentlich ist, dies zu ändern.

Die letzten Spiele…

… stellten die Flexibilität der Niedersachsen eindrucksvoll unter Beweis. Gegen Heidenheim spielte der VfL auf Augenhöhe mit, verzichtete aber darauf viel zu pressen. Dennoch hatte er in manchen Phasen sogar häufiger den Ball als die Gäste und war oft per individuellen Aktionen auf den Flügeln gefährlich, verlor aber nach einem Platzverweis das Spiel. In Sandhausen dagegen frustrierte Osnabrück die Gastgeber dagegen damit, dass sie eine deutlich passivere Spielanlage wählten und stattdessen den SVS das Spiel machen ließen. Die Idee war aus einer stabilen Abwehr heraus zu kontern und direkt zu spielen. Sie ging auf: Osnabrück kam per Freistoß zum einzigen Tor des Spiels.

Im Pokal gegen Leipzig und am Montag gegen Darmstadt dagegen wählte Thioune eine andere Herangehensweise: Der Gegner wurde viel und früh unter Druck gesetzt. Während es gegen Leipzig lediglich zu einem Achtungserfolg (2:3) reichte, kam der Gast aus Hessen unter die Räder. Beim 4:0 gegen die Lilien beeindruckte Osnabrück durch die Kombination von Pressing und schnellem Spiel in die Spitze.

Die Schlüsselspieler…

… bilden das Doppelherz des VfL: Bei allen Formationsrochaden bilden Ulrich Taffertshofer und David Blacha eine Konstante. Beide sind Prototypen für das, was Daniel Thioune mit „bei uns ist niemand zufrieden mit dem Ist-Zustand“ beschreibt: Fast alle im Kader hatten Hoffnungen auf größere Karrieren, die sich so nicht manifestierten. Blacha wurde mit Borussia Dortmund U19-Vizemeister, schaffte aber beim BVB nie den Durchbruch und versuchte sein Glück danach in Ahlen und Wehen. Für Taffertshofer ging es bei 1860 München nicht weiter. Er kam über Burghausen und Unterhaching zum VfL.

Fast immer bilden die beiden das zentrale Mittelfeld. Sie verbinden Abwehr und Angriff, egal ob als Doppelsechs im 4-2-3-1 oder als Doppelacht im 4-4-2. Blacha übernimmt dabei den marginal offensiveren Part, spielt etwas mehr Pässe, die zu Abschlüssen führen und etwas öfter ins letzte Spielfelddrittel. Taffertshofer agiert etwas defensiver, führt mehr Zweikämpfe und fängt mehr Balle ab. Ein Ansatzpunkt für den FCN muss es also sein, zu versuchen, jenes Herz des Spiels aus dem Rhythmus zu bringen, um so die Struktur des Osnabrücker Spiels zu unterbrechen.

Der Artikel erschien in leicht veränderter Fassung am 23. August 2019 unter dem Titel „Flexibilität, die Spaß macht“ im Nürnberger Stadtanzeiger, dem gemeinsamen Lokalteil von Nürnberger Nachrichten und Nürnberger Zeitung, auf Seite 36.