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Taktiktafel: St. Pauli (H)

Der Trainer…

… sparte noch vor Saisonbeginn nicht mit Kritik. Vor dem ersten Saisonspiel setzte Jos Luhukay zu einer ungewöhnlich harschen Tirade an. „Zu viel Bequemlichkeit“ attestierte er St. Pauli man brauche „eine Mentalitätsveränderung.“ Nicht nur, dass Luhukay damit in direkter Opposition zu Dortmunds Marco Reus in Sachen Haltung in Mentalitätsfragen steht, er ließ kein gutes Haar an der eigenen Mannschaft. Man habe keinen Ausnahmespieler und zu viele verletzungsanfällige Akteure. Sein Fazit: „Mit dieser Mannschaft ist alles über Platz neun ein Riesenerfolg.“

Dabei hätte man auf Grund seiner Vita vermuten müssen, dass Andreas Rettig – St. Paulis einstiger Sportdirektor, der inzwischen durch Ex-Clubvorstand Andreas Bornemann abgelöst wurde – Luhukay für mehr als Platz neun geholt hat. Dreimal ist der Niederländer aus der Zweiten Liga aufgestiegen. Bei allen drei Aufstiegen zählten seine Teams (Gladbach, Augsburg, Hertha) zu den Mannschaften mit den wenigsten Gegentoren. Damit ist Luhukays Fokus auf die Defensive auch schon unterstrichen.

Ein eher untypischer Ansatz für einen Niederländer, möchte man meinen. Luhukay durchlief die Trainerausbildung allerdings in Deutschland und erachtet sich daher eher als deutscher denn als niederländischer Trainer. Da seine Aufstiegsteams aber auch immer zu den offensivstärksten der Liga gehörten, ist jene Sichtweise von Luhukay als defensivem Pragmatiker, die ihm gerade während seiner Zeit bei Sheffield Wednesday zum Verhängnis wurde, auch nur ein Teilaspekt seiner Arbeit. Was dagegen begründet erscheint, ist sein Ruf als Disziplinfanatiker, der im Umgang mit Spielern und Verantwortlichen nicht vor schroffen Tönen zurückschreckt. Ein Grund, warum er 2016 in Stuttgart nur vier Spiele im Amt war.

Die Grundordnung…

… scheint Luhukay so langsam gefunden zu haben. In den letzten sechs Spielen lief St. Pauli mit Ausnahme des Spiels in Kiel, wo man im 3-4-1-2 begann, stets im klassischen 4-2-3-1 auf. Auffallend war dabei auch, dass St. Pauli die Formation meist eher passiv abwartend auslegte. Es überrascht daher nicht, dass St. Pauli einen sehr niedrigen PPDA-Wert hat. Diese Statistik wird sein einigen Jahren erhoben, um den Pressingdruck einer Mannschaft zu messen.

PPDA steht dabei für Pässe pro Defensivaktion. Die Anzahl der gegnerischen Pässe wird dabei ins Verhältnis zu allen eigenen Defensivaktionen (Defensivzweikampf, abgefangener Ball, herausgeschlagener Ball, Foul, etc.) gesetzt. Je geringer der Wert, desto höher der Pressingdruck. Der FCN liegt in der aktuellen Saison mit einem Wert von 11,7 etwas über dem Ligaschnitt (11,1). Im Vorjahr hatte man in der Bundesliga mit 18,2 noch den schlechtesten PPDA-Wert aller Mannschaften in allen fünf europäischen Topligen in den letzten fünf Jahren erzielt hatte.

St. Paulis PPDA-Wert lag vor der Partie in Sandhausen bei 16,2. Nur Aue (16,6) war noch schwächer. In Sandhausen überraschte Luhukay dann mit wesentlich aktiverem und forscherem Pressing, so dass sich der Durchschnittswert leicht verschob. Ein Phänomen, das sich auch mit den letzten Spielen der Vorsaison unter Luhukay deckt, wo sich pressingarme und pressingintensive Spiele ebenfalls abwechselten.

Die letzten Spiele…

…  waren nach verkorkstem Start mit nur einem Punkt aus drei Spielen, erfolgreich. Seit fünf Spielen sind die Kiezkicker nun ungeschlagen. Das verbindet sie mit dem FCN, in dieser Phase holte St. Pauli sogar noch zwei Punkte mehr als der Club, da man ein Spiel mehr gewann.

Emotionales Highlight für die meisten Anhänger des FC St. Pauli war in dieser Zeit sicher der Derbysieg gegen den bis dahin – und seitdem – ungeschlagenen HSV. Gerade hier wich Luhukay sowohl von der Passivität als auch von strikten Rollen im Zentrum ab, ließ Møller Dæhli, Knoll und Becker ihre Positionen im Mittelfeld rotieren und übte speziellen Druck auf HSV-Sechser Adrian Fein aus, so dass dieser das Spiel nicht wie gewohnt lenken konnte. Gegen Sandhausen und Osnabrück spielte man dann wieder mit festeren Rollen und größerer Passivität.

Auch auffällig: Nur ein Zweitligist (Darmstadt) hat weniger Schüsse aufs Tor abgegeben als der FC St. Pauli. Die 13 Tore liegen dann auch leicht über dem Erwartungswert nach expected Goals: 11,63. Setzt man die beiden Zahlen allerdings in Relation fällt auf, dass nur zwei Zweitligisten einen besseren xG-Wert pro abgegebenem Schuss haben. Die Trefferwahrscheinlichkeit eines Schusses liegt statistisch bei St. Pauli bei 13,4 Prozent, man ist in der Schussauswahl also geduldig und sucht nicht sofort den Abschluss. Am anderen Ende des Spektrums liegt übrigens der FCN. Der xG-Wert eines einzelnen Torschusses beim Club: 8,8 Prozent.

Der Schlüsselspieler…

… spielte in der Jugend einst bei Manchester United. Mats Møller Dæhli ist mit sechs Vorlagen der beste Vorbereiter der Zweiten Liga. Der Norweger agiert im 4-2-3-1 als Zehner und ist die offensive Schaltzentrale des FC St. Pauli. Er ist auch das Gegenbeispiel zu Luhukays These, dass St. Pauli keinen Unterschiedsspieler besäße. Mit für einen Angriffsspieler enorm hohen 84% Passgenauigkeit für Pässe in die Angriffszone zeigt sich schon, wo Dæhlis Stärken liegen: Im Auge, im sicheren Abspiel und in der Kreativität.

So ist er dann auch der Spieler bei St. Pauli mit den meisten Pässen, die zu Abschlüssen führen. Selbst sucht er dagegen nur selten den Abschluss, gerade einmal zwei Ballberührungen im Strafraum stehen im Schnitt pro Spiel zu Buche. Da verwundert es dann auch nicht, dass Møller Dæhli trotz offensiver Rolle in 86 Profispielen in Deutschland nur auf sechs Tore. Es stehen aber auch 14 Vorlagen zu Buche. Im Ausschalten von Møller Dæhlis Pässen in die Spitze wird einer der Schlüssel des Spiels am Sonntag liegen, ein anderer darin, welchen Pressingansatz Luhukay am Ende wählt.

Der Artikel erschien in leicht veränderter Fassung am 3. Oktober 2019 unter dem Titel „Erfolgreich mit norwegischer Kreativität“ im Nürnberger Stadtanzeiger, dem gemeinsamen Lokalteil von Nürnberger Nachrichten und Nürnberger Zeitung, auf Seite 40.

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