Der Trainer …
… war vor zwei Jahren noch als Regionalligatrainer im Max-Morlock-Stadion zu Gast. Mit 2:1 siegte Tim Walters Mannschaft, die Zweitvertretung des FC Bayern München damals, auch dank eines Tores von Timothy Tillman. Sein Gegenüber hieß Reiner Geyer, der hatte auf Geheiß von Michael Köllner unter anderem Lukas Mühl, Fabian Bredlow und Lukas Jäger auflaufen lassen müssen. Jener Köllner war im September 2017 auch unter den Zuschauern und zeigte sich im Gespräch wenig begeistert vom Auftreten von Tim Walter.
So ergeht es Walter relativ oft. Der 44-Jährige eckt an. Nicht bei seinen Spielern, denen er oft das Gefühl vermittelt, nur sie könnten wirklich guten Fußball spielen. Doch die Gegner bekommen oft genug Breitseiten. So kritisierte Walter in der letzten Saison, als er Holstein Kiel trainierte, Union Berlin als eine der „Truppen, die nicht am Fußball spielen interessiert sind“. Union stieg am Ende der Saison auf und die Spieler riefen während ihrer Aufstiegsfeier bei Walter an, da sie sich mit „Hier sind die, die nicht Fußball spielen können“ melden wollten.
Walter ging nicht ran und im Sommer aber dafür nach Stuttgart. Er gehört – wie Kölns Gisdol, Spartak Moskaus Tedesco, Bremens Kohfeldt oder Augsburgs Schmidt – zu der Gruppe an Trainern, die selbst nie höherklassig gespielt haben, jetzt aber im Profibereich trainieren, was er gegenüber dem SWR so erklärte: „Ich habe gemerkt, dass ich vielleicht doch bessere Voraussetzungen habe, die Dinge, die ich auf dem Platz nicht umsetzen kann, dann als Trainer zu vermitteln“.
Die Grundordnung …
… zeigt die Dinge, die Walter auf dem Platz vermitteln will. Walter hat es nämlich tatsächlich geschafft, so etwas wie eine Innovation ins Spiel einzubauen. Tobias Escher, Doyen der deutschen Taktikszene, beschrieb Walters Idee plastisch: „Wer das erste Mal einer Mannschaft von Tim Walter zuschaut, kapiert erst einmal gar nichts.“ Das liegt daran, dass Walter die Positionszuordnungen seiner Spieler in höchstem Maße flexibel sind.
Besonders auffällig wird dies bei den Innenverteidigern. Die gestalten unter Walter den Spielaufbau nicht allein dadurch, dass sie den Ball bei den Mittelfeldspielern abgeben und sich dann wieder in die Kette zurückfallen lassen. Stattdessen tragen sie den Ball selbst ins Mittelfeld und beteiligen sich dort am Spielaufbau. Zur Absicherung rücken stattdessen die Außenverteidiger nach hinten in die Kette. Die Sechser, in deren Raum die Innenverteidiger mit dem Ball aufrücken, rutschen dann weiter auf dem Spielfeld nach vorne und schaffen so Überzahl für den VfB Stuttgart in Tornähe.
Bisweilen ziehen aber auch die Außenverteidiger in die Mitte zum Aufbau. Dann rücken die Sechser in die Kette oder sogar auf die Außenposition. Wenn das Spiel funktioniert, ist der Druck für die gegnerische Offensive fast nicht auszuhalten. Allerdings schwächelte Stuttgart in den letzten Wochen massiv.
Die letzten Spiele …
… hat der VfB Stuttgart größtenteils nämlich verloren. Fünf der letzten sieben Spiele endeten mit Niederlagen. Die erste davon war eine Heimniederlage gegen Wiesbaden, die noch als statistische Anomalie hätte gelten können, doch auch Kiel, Hamburg, Osnabrück und Sandhausen bezwangen den VfB. Allerdings gelang nur Kiel dieses Kunststück im ehemaligen Neckarstadion. Die restlichen Niederlagen folgten auswärts.
Besonders auffällig war dabei, dass sich die Torchancen der Gegner aus zwei Typen von Gelegenheiten ergaben. Zum einen aus Standardsituationen, was sich nicht immer verhindern lässt in einem Fußballspiel. Zum anderen aber aus Situationen, in denen der VfB eigentlich den Ball hatte, ihn dann aber verlor. Gerade durch die gewollte Unordnung im eigenen Aufbauspiel, kann es dann passieren, dass die Abwehr plötzlich numerisch unterlegen ist, wenn ein schneller Konter des Gegners heranrauscht. Gefördert wurde dies in einigen Spielen zusätzlich durch unnötige Ballverluste, die sich aus unpräzisen Zuspielen ergaben.
Der Schlüsselspieler …
… ist gesperrt. Kapitän Marc Oliver Kempf war derjenige Innenverteidiger, der Walters Ideen in Sachen Spielaufbau im Zentrum am besten umsetzen konnte. Der andere Spieler, auf den dies in hohem Maße zutrifft, ist Pascal Stenzel. Bis zum Sonntag hatte der Rechtsverteidiger alle Spiele über die volle Distanz bestritten, gegen Sandhausen wurde der 23-Jährige erstmals ausgewechselt. Stenzel zieht ähnlich wie Kempf gerne mit Ball in Mitte, verteilt die Kugel dort und hilft mit Überzahl im tornahen Zentrum schaffen.
Stenzel ist der Spieler, der in der gesamten Zweiten Liga die meisten Pässe spielt, er bringt mehr als 92% der Bälle auch beim Mitspieler an. Nun sagt die reine Zahl der Pässe nichts über deren Qualität aus, doch Stenzel ist auch ligaweit der Spieler mit den meisten Pässen für signifikanten Raumgewinn. Selbst in dieser Kategorie liegt die Passgenauigkeit des Außenverteidigers noch bei fast 90%. Auch bei den Pässen ins Angriffsdrittel belegt Stenzel Platz eins und selbst in dieser Kategorie kommt er noch auf 85% Passgenauigkeit.
Zum Teil haben diese Werte natürlich mit der Spielanlage des VfB zu tun, der im Schnitt fast 90 Pässe mehr als alle anderen Teams in der Liga spielt und dabei auf fast 87% Passgenauigkeit und 66% Ballbesitz kommt. Es liegt aber auch an Stenzel selbst, der in Walters flexiblem System aufblüht.
Der Artikel erschien in leicht veränderter Fassung am 6. Dezember 2019 unter dem Titel „Wenn der Druck nicht auszuhalten ist“ im Nürnberger Stadtanzeiger, dem gemeinsamen Lokalteil von Nürnberger Nachrichten und Nürnberger Zeitung, auf Seite 36.