Der Trainer…
… tauchte bereits an dieser Stelle auf, schließlich hat Darmstadt 98 noch immer mit den Nachwirkungen von der Art, wie Dirk Schuster Fußball spielen lässt, zu kämpfen. Der 51-Jährige steht im deutschen Fußball wie kein Zweiter für das, was im Englischen „Route 1 Football“ im Deutschen aber „Kick and Rush“ heißt. Unter Schuster spielte Darmstadt in der Bundesliga nämlich phasenweise über ein Drittel seiner Bälle lang und vertraute auf die Schnelligkeit und Kopfballstärke seiner Angreifer und verzichtete fast vollständig auf Ballbesitz. Am Ende der Saison 2015/16 lag der Ballbesitz der Lilien bei lediglich 33,7%.
Dennoch hielt man sensationell die Klasse. Schuster verließ daraufhin Darmstadt in Richtung Augsburg. Am Ende der Saison waren weder Verein noch Trainer erstklassig. Die Lilien stiegen ab, Schuster wurde noch vor der Winterpause in Augsburg entlassen. Es überraschte daher nicht, dass die beiden im Dezember 2017 – Darmstadt stand auf dem Abstiegsrelegationsplatz in der Zweiten Liga – erneut zueinanderfanden. Schuster ließ wieder „Schuster-Fußball“ spielen, Darmstadt verlor elf Spiele in Folge nicht, man hielt gemeinsam die Klasse.
Doch im Februar dieses Jahres endete nach nur einem Sieg aus zehn Spielen die zweite Amtszeit des ehemaligen deutschen Nationalspielers am Böllenfalltor. Dieser war daher im August frei, um in Aue den Posten von Daniel Meyer zu übernehmen, der unter bis heute nicht geklärten Umständen von Aues Präsident Helge Leonhardt beurlaubt worden war.
Die Grundordnung…
… ist unter Dirk Schuster in der Regel ein einfach zu spielendes 4-4-1-1. Die Formation mutet in vielerlei Hinsicht wie ein flaches 4-4-2 an, unterscheidet sich aber vor allem darin, dass die Stürmer nicht nebeneinander, sondern hintereinander agieren. Klassischerweise spricht man von einem „Stoßstürmer“ (in Aue: Pascal Testroet) und einer „hängenden Spitze“ (Nazarov oder Hochscheidt). Dabei ist die hängende Spitze der Verbindungsspieler zwischen den beiden dichten Ketten in Abwehr und Mittelfeld und unterstützt die Mittefeldreihe im Verteidigungsspiel, während der Stoßstürmer vor allem zum Verwerten der Zuspiele zuständig ist. In Schusters Spielanlage mit langen Bällen dient der Stoßstürmer außerdem dazu Bälle auf die nachrückende hängende Spitze oder die aufrückenden Außenspieler zu verteilen.
Interessanterweise agierte Aue im letzten Spiel vor der Länderspielpause in Sandhausen mit dem gleichen offensiven Setup, veränderte aber dahinter auf eine Dreier- und eine Fünferkette. Wobei je nach Spielsituation entweder die Abwehr oder das Mittelfeld aus fünf Spielern bestand. Ob das nur eine einmalige Aktion war oder nun tatsächlich zu Schusters Repertoire gehört, lässt sich noch nicht einschätzen, für den Umgang mit dem Angriffsmuster der Sachsen ändert es aber nicht viel. Es gilt auch weiterhin durch konsequentes Gewinnen der Duelle gegen Testroet und Verhindern der Abspiele von Nazarov zu verhindern, dass Aue zum Abschluss kommt.
Die letzten Spiele…
… performte Erzgebirge weit über dem zu erwartenden statistischen Wert. Rechnet man aus den an dieser Stelle bereits mehrfach erwähnten expected Goals die Siegwahrscheinlichkeiten für die einzelnen Spiele, erhält man expected Points. Nach diesen auf Grund der Spielverläufe zu erwartenden Punkten müsste Aue entweder bei neun oder zehn Punkten stehen, tatsächlich haben sie aber fünf mehr eingefahren. Die höchste Diskrepanz in der Liga, die dazu führt, dass Aue gemßäß den expected Points sogar Vorletzter der Tabelle ist.
Oft ist ein hoher Unterschied zwischen expected points und tatsächlicher Punktzahl ein Indikator dafür, dass eine Mannschaft überperformed und sich die Ergebnisse auf lange Sicht wieder einpendeln. So war es zum Beispiel in der vergangenen Saison in der Premier League, als Manchester United nach der Amtsübernahme von Ole Gunnar Solskjaer eine Zeit lang alles gewann und bis auf Platz Vier vorstieß, obwohl die expected goals ein anderes Bild zeichneten. Tatsächlich pendelten sich die Resultate im Laufe der Rückrunde ein und Manchester United landete außerhalb der Champions League Plätze.
Bei Aue kommen die Zweifel an der Nachhaltigkeit des Erfolgs auch daher, dass die Sachsen in vielen anderen statistischen Kategorien schwach abschneiden. Sie verzeichnen die wenigsten Balleroberungen, die wenigsten Pässe ins letzte Drittel, die wenigsten Ballberührungen im gegnerischen Strafraum, die wenigsten Offensivzweikämpfe und haben den drittgeringsten Ballbesitz. Das alles ist nicht untypisch für Dirk Schuster Fußball, das deutliche Übertreffen der expected points allerdings schon.
Der Schlüsselspieler …
… ergibt sich aus der Beschreibung des Fußballs, den Dirk Schuster spielen lässt, fast von selbst. Pascal Testroet ist der Stoßstürmer in Aues 4-4-1-1. Er ist derjenige, der die Bälle festmacht und verteilt und sowohl andere in Szene setzt, als auch selbst zum Abschluss kommt. Der 29-Jährige kommt daher auch auf den höchsten Wert an Pässen, die zu einem Torabschluss führen, in der gesamten Zweiten Liga.
Das ist auf Grund der oben genannten Zahlen für das gesamte Team umso erstaunlicher. Testroet, im Sommer 2018 auch Dresden gekommen, ist aber nicht nur Vorbereiter, sondern auch Vollstrecker. Drei Saisontore stehen für den Angreifer bereits zu Buche, alle drei Tore schoss Testroet in den letzten beiden Partien vor der Länderspielpause. Das Ausschalten des in Bocholt geborenen und bei Schalke und Werder Bremen ausgebildeten Angreifer ist daher zentrale Aufgabe der Clubdefensive heute Abend.
Der Artikel erschien in leicht veränderter Fassung am 18. Oktober 2019 unter dem Titel „Gegen die statistische Wahrscheinlichkeit“ im Nürnberger Stadtanzeiger, dem gemeinsamen Lokalteil von Nürnberger Nachrichten und Nürnberger Zeitung, auf Seite 40.